Zum Gedenken 30 Jahre Mauerfall

Die Autorin Anne Kanis hat am 5. April 2019 aus ihrem Debutroman „Nichts als ein Garten“ (Vlg. Metrolit, 2015) sowohl an den Beruflichen Schulen Eschwege, als auch am Abend des gleichen Tages in der Stadtbibliothek Eschwege, eine Lesung gehalten.
Das Buch behandelt in sehr einfühlsamer Weise das Erleben einer jungen Ostberlinerin in den ersten Wochen und Monaten nach dem Mauerfall bzw. der Grenzöffnung vor 30 Jahren. Die junge Protagonistin erlebt dabei vielfältige Ambivalenzen in ihren Begegnungen mit den Menschen in Westberlin. Zugleich erinnert sie in diesen Tagen aber auch den Kampf ihrer Eltern um eine Demokratisierung der DDR. Diese Herausforderung dominierte das Familienleben und die Atmosphäre im Freundeskreis der Familie. Der alltägliche Druck und die Spannungen unter den Bedingungen von Stasi-Beobachtung und daraus resultierender verdeckter und offener Repressalien treten in den Erinnerungen der jungen Frau wieder zutage. Aber auch die Bilder eines familiären Zusammenlebens, das nicht von Materialismus und Leistungsdruck geprägt war, werden im Durchstreifen einer westlichen Glitzerwelt wieder nach oben gespült. Und, ja, sie darf jetzt frei reden, aber dabei bitte nicht jammern. Anpassung an den Westen ist angesagt, bedeutet zugleich aber Zurückhaltung im Hinblick auf die eigene Ostbiografie, die in mancher neu sich anbahnenden Freundschaft peinlich aufstößt. Der Rückzug in den eigenen Garten, in der DDR ein Refugium für die Familie der jungen Frau, wird auch in der Begegnung im Westen wieder zur konkreten Sehnsucht.
Rund 70 Schüler*innen lauschten am Mittag der Lesung von Anne Kanis, die in ihrer ganz eigenen Art, sich als Person fast unsichtbar zu machen versteht, um mit ihrer Art des Lesens eine Leinwand aufzuspannen, in der die Besucher*innen dem Gehörten wie einem Film folgen können.
Die anschließende Diskussion, für die sich Anne Kanis viel Zeit nahm, streifte Fragen zur DDR, zu ihren persönlichen Erfahrungen als junge Teenagerin in der Bundesrepublik, zum Erleben von Entwertung und Borniertheit nach der ersten Euphorie der Wiedervereinigung, zur Lage der Demokratie in unserer heutigen Gesellschaft. Die Schüler*innen, aber auch die zahlreichen Lehrkräfte, waren spürbar mit hoher innerer Beteiligung dabei und spendeten am Ende langen und herzlichen Beifall.
Ähnlich verlief der Abend in der Stadtbibliothek, dem rund 20 Besucher*innen beiwohnten. In dieser Lesung wurde mit der intensiven und filigranen musikalischen Untermalung durch den Göttinger Jazzbassisten Martin Tschoepe, der feine, aber intensive Spannungsbogen dieser exzellenten Literatur noch hervorgehoben. Auch hier nahmen sich beide Künstler im Nachgang ausgiebig Zeit für die vielen Fragen und Anmerkungen aus dem Publikum. „Die Freundlichkeit, Offenheit und konstruktive Neugierde des Publikums in Eschwege wird mir diese kleine Stadt in bester Erinnerung belassen. Ich komme gerne wieder.“ So in etwa lautete am späten Abend das Schlussstatement der Autorin.

Matthias Heintz, 29.4.2019